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25 Gespräch mit Peter Dienel

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In diesem zeithistorischen Audio-Dokument spricht Dr. Max Dienel mit seinem Vater Prof. Dr. Peter C. Dienel über dessen Erfindung „Planungszelle“, ein aleatorisches Bürgerbeteiligungsverfahren, an dessen Ende nach viertägigen Beratungen in wechselnden Kleingruppen ein sog. Bürgergutachten entsteht. Das Gespräch fand im Juni 2001 statt, die Tonqualität ist der Zeit und den technischen Möglichkeiten beim Home-Recording entsprechend bescheiden. Umso stärker ist allerdings der Inhalt. Man spürt Peter Dienels Leidenschaft für das Verfahren. Seine Vision von den Millionen für solche Bürgerarbeit freigestellten Mitmenschen ist zwar auch 52 Jahre nach seiner Innovation noch nicht Realität, aber zufallsbasierte Auswahl von Bürgern (statt der üblichen Selbstselektion durch Teilnahme oder Wahl/ Delegation/ Berufung von Funktionären) ist inzwischen keine Spinnerei mehr, sondern Alltag (Stichwort: Bürgerräte).

Vorab gibt es von Host Timo Rieg, der Peter Dienel persönlich kannte und seit dessen Tod im Jahr 2006 zum „Qualitätsnetz Bürgergutachten“ gehört, ein paar Hinweise zu Begriffen und Wegmarken, die im Gespräch von Peter und Max Dienel zu hören sind.

Aus der Materialsammlung in den Shownotes sei vor allem auf das Gespräch mit Peter Dienels zweitem Sohn, Prof. Dr. Hans-Liudger Dienel verwiesen, der selbst seit rund zwei Jahrzehnten Planungszellen organisiert.

Shownotes

Planungszellen und Bürgerräte: Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Liudger Dienel (?Macht:Los! Folge 12)
https://www.machtlos.net/12-mit-hans-liudger-dienel-planungszellen-und-buergerraete/

Methode Planungszelle mit weiteren Hinweisen
https://www.aleatorische-demokratie.de/planungszelle/

Planning Cell (EN)
https://www.planungszelle.de/en/planning-cell/
https://participedia.net/method/160

Peter Dienel/ Ortwin Renn:
Planning Cells: A Gate to “Fractal” Mediation
(Chapter in „Fairness and Competence in Citizen Participation Evaluating Models for Environmental Discourse“, 1995)
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-94-011-0131-8_6

Forschungsstelle Peter Dienel an der Theologischen Hochschule Elstal
https://www.th-elstal.de/forschung/themenfelder/institute/institut-fuer-diakoniewissenschaft-und-sozialtheologie/3-peter-dienel-forschungsstelle-peter-dienel-nachlass-und-peter-dienel-preis/

Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF) an der Bergischen Universität Wuppertal
https://idpf.uni-wuppertal.de/de/

Planungszelle Hagen-Haspe (Dezember 1975 bis Mai 1976, pdf)
https://www.idpf.eu/wp-content/uploads/2018/10/bg_hagen-haspe_kleiner.pdf

Übersicht weiterer durchgeführter Planungszellen (u.a. zu ISDN und „European Citizens’ Consultations –  Bürgergutachten zu Eckpunkten für ein offenes, ökologisches und soziales Europa“)
https://www.aleatorische-demokratie.de/liste-der-deutschen-planungszellen-citizens-jurys/

Peter Dienel in der Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Dienel

Ned Crosby (Erfinder der Citizens‘ Jury, Nachruf)
https://nexusinstitut.de/nachruf-auf-ned-crosby/

Dr. med. Max Dienel
https://www.appetitologie.de/index.php/ueber-mich

Qualitätsnetzwerk Bürgergutachten
https://www.planungszelle.de/netzwerk/

Erläuterungen zur Folge

In dieser Ausgabe von ?Macht:Los! spricht Peter Dienel – der Erfinder der „Planungszelle“. In seinem gleichnamigen Buch bin ich das erste Mal auf ein aleatorisches Beteiligungsverfahren gestoßen. Kurz darauf habe ich Dienel und seine Erfindung „Planungszelle“ dann persönlich kennengelernt, habe an solchen Planungszellen mitgearbeitet und in zwei Modellprojekten versucht, ob das mit der zufälligen Zusammenstellung von Gruppen und der Beratung politischer Themen über vier dicht gepackte Tage auch bei Jugendlichen funktioniert. „Youth Citizens‘ Jury“ haben wir das damals genannt statt „Jugend-Planungszell“, denn international war damals der Begriff „Citizens‘ Jury“ deutlich geläufiger als „Planning Cell“, was vor allem daran liegt, dass praktisch zeitgleich mit Dienels deutscher Planungszelle von Ned Crosby unter diesem Namen in den USA ein ganz ähnliches Verfahren entwickelt wurde, das ebenfalls bis heute Anwendung findet – nun auch Citizens Assembly genannt.

Am 28. Oktober ist Peter Dienels 100. Geburtstag. Da sich seine Idee über die Jahrzehnte – man kann schon sagen – global ausgebreitet hat und es viele Leute gibt, die Planungszellen durchführen und solche, die dazu forschen, wird dieser Geburtstag groß gefeiert. Leider ohne das Geburtstagskind, denn Peter Dienel ist bereits im Dezember 2006 im Alter von 83 Jahren gestorben. Aber wohl bei allen, die ihn kannten, ist er weiterhin sehr präsent in Erinnerung.

Einen kleinen Einblick, warum das so ist, gibt das Zeitdokument, das ich in der heutigen Ausgabe von „?Macht:Los!“ anbieten darf: Es ist ein Gespräch mit Peter Dienel, das sein Sohn Max Dienel am 11. Juni 2001 geführt hat. Dieses Tondokument ist schon seit längerem auf Soundcloud verfügbar. Aber ich freue mich sehr, dass ich es hier im Podcast nochmal für andere Kanäle zugänglich machen darf.

Die Tonqualität ist leider bescheiden. Ich habe mich an einer Bearbeitung versucht und konnte ein paar Huster rausschneiden, aber wo es übersteuert ist, ließ sich nichts machen, zumindest nicht mit meinen bescheidenen Fähigkeiten.  Aber ich finde, man hört sich da schnell rein. Und vielleicht gehört es auch zu solchen Zeitdokumenten, dass sie eben auch heute noch klingen, wie sie damals klangen.

Ich möchte vorab nur ein paar wenige Hinweise geben zu dem, was in dem einstündigen Interview gleich zur Sprache kommt.

Die wesentliche Entwicklung und vor allem dann Erprobung der Methode Planungszelle erfolgte, als Peter Dienel Professor an der Uni Wuppertal geworden war. Dort entstand dann auch eine eigene „Forschungsstelle Bürgerbeteiligung“, die heute den Namen „Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung“ trägt. Dienel arbeitete auch nach seiner Emeritierung dort weiter an Planungszellen, später wurde die Forschungsstelle von Prof. Hans Joachim Lietzmann geleitet, der inzwischen aber auch emeritiert und nun Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats ist.

Wie Planungszellen funktionieren, ist hier bei ?Macht:Los! immer wieder Thema. Wer die alten Folgen nicht kennt, höre sich am besten die Ausgabe Nr. 12 an, da habe ich mit Peter Dienels anderem Sohn gesprochen, Hans-Liudger Dienel. Prof. Hans-Liudger Dienel ist, anders als Bruder Max Dienel, der als Arzt arbeitet, heute selbst sehr aktiv mit Planungszellen und der neueren Modifikation „Bürgerrat“ beschäftigt, mit seinem Nexus-Institut war er an den ersten bundesweiten Bürgerräten beteiligt und gehört auch zu den Durchführungsträgern des derzeit laufenden Bürgerrats „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“, den der Deutsche Bundestag beauftragt hat. In dieser Folge 12 geht es auch um den Unterschied von Planungszelle und Bürgerrat.

In aller Kürze nochmal: Eine Planungszelle besteht aus 25 per Los aus dem Einwohnermelderegister bestimmten Bürgern, die vier Tage lang möglichst konkrete Fragen zu einem Thema beraten. Dazu wird das Gesamtthema in kleinere Aspekte und Fragestellungen aufgeteilt, zu denen es dann jeweils einen Input von Experten gibt, wozu auch Betroffene gehören (also bspw. bei einer geplanten Baumaßnahme die Anwohner, die künftigen Nutzer und so weiter). Nach dem Input, der jeweils möglichst die gesamte Bandbreite an Ideen und Meinungen skizzieren soll, bei dem also oft von verschiedenen Referenten sehr gegensätzliche Positionen vorgetragen werden, beraten die Planungszellen-Mitglieder in Kleingruppen zu je 5 Personen. Diese Kleingruppen bekommen konkrete Fragen an die Hand, zu denen sie ihre Positionen formulieren. Die Beratungsergebnisse der Kleingruppen werden dann kurz im Plenum allen anderen vorgestellt und dann, wenn alles zusammengetragen ist, gewichtet. Es kann also jeder Punkte vergeben, wie wichtig ihm eine Position ist, wie sehr man einer Forderung oder Empfehlung zustimmt. Man ist dabei also nicht auf das beschränkt, was in der eigenen Kleingruppe zur Sprache gekommen war.

Je nach Fragestellung werden diese einzelnen Arbeitsergebnisse dann weiter bearbeitet, verdichtet, es wird sortiert, es entstehen vielleicht neue Fragestellungen, und am Ende der vier Tage stehen Empfehlungen, Antworten auf die gestellten Fragen. Weil über die Zeit weit mehr erarbeitet wird als ein paar Schlagworte, werden diese Empfehlungen dann im Nachgang zu einem sogenannten Bürgergutachten zusammengetragen. Dem lässt sich dann entnehmen, was genau beraten wurde, welche möglichen Meinungsverschiedenheiten bestanden und wie man sich auf was geeinigt hat.

Damit die Ergebnisse valide sind, werden mehrere Planungszellen zur exakt selben Fragestellung durchgeführt, meist mit exakt gleichem Setting, damit die Ergebnisse miteinander vergleichen werden können – aber das möchte ich mal in einer eigenen Folge genauer besprechen.

Die Prozessbegleiter, um die es im Gespräch mehrfach geht, sind für die Organisation der Planungszellen zuständig. Sie moderieren nur die relativ kurzen Plenumsphasen, also den Input durch Referenten und die Darstellung der Ergebnisse aus den Kleingruppen. Inhaltlich dürfen sie sich nicht einmischen, an den Kleingruppenberatungen dürfen sie nicht teilnehmen, das ist ein absolut geschützter Raum für die Ausgelosten. Das zum Beispiel läuft bei Bürgerräten gänzlich anders.

Peter Dienel wird – aus heutiger Sicht – gleich sehr beachtliche Zahlen nennen. Mindestens acht Planungszellen hält er für notwendig, er berichtet aber auch von Verfahren mit weit über 20 – da sind dann also insgesamt mehr als 500 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger beteiligt. Die heutigen Bürgerräte kommen mit 160 Teilnehmern aus. Wenn wir von Planungszelle sprechen, ist damit übrigens oft nicht nur die einzelne Gruppe mit 25 Personen gemeint, sondern die Gesamtheit aller zu einer Fragestellung in einem einheitlichen Prozess durchgeführten Planungszellen. Der Singular bedeutet also nicht zwingend, dass wir tatsächlich nur von einer einzelnen Planungszelle reden, meist ist das Gesamtprojekt gemeint.

Peter Dienel spricht im Folgenden mehrfach von den Planungszellen Hagen-Haspe. Die wurden von Dezember 1975 bis Mai 1976 durchgeführt. Der zugehörige Bericht ist digital verfügbar, ich verlinke ihn in den Shownotes oben.

Die 24 bundesweiten Planungszellen zur Energiepolitik fanden von Juni 1982 bis März 1983 statt.

Die 20 Planungszellen zu ISDN fanden 1990 statt. ISDN steht für „Integrated Services Digital Network“ und war damals als neue Technologie fürs Telefonieren vor allem unter dem Gesichtspunkt des Datenschutzes ein großes Thema.

Die beim damaligen Gespräch 2001 kurz bevorstehenden Planungszellen unter anderem in Bayern zum Verbraucherschutz und in Osnabrück zur Gestaltung des Neumarkts finden sich wie viele andere Planungszellen in einer Übersicht auf aleatorische-demokratie.de, die ich ebenfalls in den Shownotes oben verlinke.

2006 kam es dann zu den von Peter Dienel angesprochenen Planungszellen im Auftrag der EU-Kommission, deren Berliner Version er noch selbst eröffnet hat. Wenige Tage später ist er dann überraschend verstorben, seinem Andenken ist das entstandene Bürgergutachten gewidmet. Auch dieses ist über die Shownotes abrufbar.

Und nun, im Jahr 2023, sind wir zwar noch ein großes Stück von der Planungszellen-Industrie entfernt, die Peter Dienel vorschwebte und von der er am Ende des Gesprächs mit seinem Sohn Max Dienel gleich sprechen wird. Aber aleatorische Verfahren sind in Politik und Verwaltung angekommen, vor allem unter dem Namen und mit der aus Irland adaptierten Methode Bürgerrat. Es werden derzeit so viele aleatorische Bürgerbeteiligungsverfahren durchgeführt, dass ich längst den Überblick verloren habe. Aber auf das Urmodell Planungszelle habe ich weiterhin ein wachsames Auge, dazu gibt es auch noch viel zu besprechen, vieles davon dürfte auch für Bürgerräte interessant sein.

Ein Wort noch zur Sicherung des Verfahrens Planungszelle vor Einflussnahme. Was Peter Dienel nicht erwähnt, ist die Evaluation durch die ausgelosten Teilnehmer selbst. Darin wird stets auch explizit gefragt, ob sie irgendwelche Versuche der Einflussnahme durch die Prozessbegleiter oder andere wahrgenommen haben oder ob ihnen sonst irgendetwas negativ am Verfahren aufgefallen ist. Diese Evaluation durch die Teilnehmer gehört heute zu den Qualitätsstandards.

Die Redaktion des Bürgergutachtens wird zwar nicht einheitlich gehandhabt, die von Dienel erwähnten zwei Teilnehmer aus den Planungszellen sind als Minimum zu verstehen, oft sind es deutlich mehr, zum Beispiel aus jeder der 25-er Gruppen mindestens eine Person. Ich selbst habe bisher stets allen angeboten, das Gutachten vor der Veröffentlichung durchzusehen und ggf. Einwände zu äußern. Und bei den Jugend-Planungszellen wurden die Gutachten noch direkt am Abend des letzten Tages von allen gemeinsam verfasst, weshalb sie auch deutlich kürzer ausgefallen sind. Dafür stammen sie 100% authentisch von den ausgelosten Jugendlichen selbst, bis auf einen Formalteil, der das Verfahren erklärt.

 

 

 

 

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